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Der Fisch


... Eines Tages war ich mit einem Boot auf dem Ganges unterwegs. Die Sonne des wunderschönen Herbstabends war gerade untergegangen und die Stille des Himmels mit unbeschreiblichem Frieden und Schönheit erfüllt. Die riesige Wasserfläche zeigte keine Kräuselung und spiegelte alle sich wandelnden Schattierungen des glühenden Sonnenuntergangs wider. Kilometerweit erstreckte sich eine einsame Sandbank wie ein riesiges, vorsintflutliches, amphibisches Reptil, dessen Schuppen in leuchtenden Farben schillerten.

 

Als unser Boot lautlos am steilen und von den Nisthöhlen einer Vogelkolonie durchsetzen Flussufer entlangglitt, erschien plötzlich ein großer Fisch an der Wasseroberfläche und verschwand wieder. Auf seiner schwindenden Gestalt stellte er alle Farben des Abendhimmels zur Schau und schob für einen Moment die vielfarbige Leinwand beiseite, hinter der sich eine stille Welt voller Lebensfreude verbarg. Mit einer wunderschönen tanzenden Bewegung kam er aus den Tiefen seiner geheimnisvollen Behausung und fügte der stummen Symphonie des sterbenden Tages seine Musik hinzu. Es fühlte sich an, als erhielte ich den freundlichen Gruß einer fremden Welt in der ihr eigenen Sprache, und es berührte mein Herz mit einem Freudenblitz.

  

Plötzlich rief der Mann am Steuer mit deutlichem Bedauern: „Ah, was für ein großer Fisch!“ – und ließ sofort vor seinen Augen das Bild des gefangenen und für das Abendessen zubereiteten Fischs entstehen. Allein durch die Brille seiner Wünsche konnte er ihn wahrnehmen und damit nicht die ganze Wahrheit seiner Existenz.

 

Doch der Mensch ist nicht ausschließlich ein Tier. Er strebt nach einer spirituellen Vision der ganzen Wahrheit. Sie bereitet ihm seine größte Freude, denn sie offenbart ihm die tiefste Harmonie zwischen ihm und seiner Umgebung. Unsere Wünsche begrenzen die Verwirklichung unseres Selbst und behindern die Erweiterung unseres Bewusstseins. Sie führen zu Sünde als innerste uns von Gott trennende Barriere, die Uneinigkeit und Arroganz der Exklusivität erschafft. Denn Sünde ist keine bloße Handlung, sondern eine Lebenseinstellung. Sie sieht unser Ziel als endlich und unser Selbst als letzte Wahrheit. Für sie sind wir alle nicht dem Wesen nach eins und jeder existiert individuell für sich ...

 

Sadhana, R. Tagore


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